25.10.2022

Ermittlung potentieller Wasserstoffbedarfe für Versorgungsgebiete und Regionen

Werkzeug für die Entscheidungsfindung

Abbildung 1 Wasserstoffbedarf im Straßenverkehr nach dem Szenario TN Strom in der Betrachtungsregion von 2025-2050 nach Fahrzeuggruppen

Dass es Wasserstoff für das Gelingen der Energiewende bedarf, ist inzwischen verbreiteter Konsens. Wo dieser hergestellt und eingesetzt werden soll, ist hingegen noch nicht vollends klar. Dezentrale Erzeugung vs. zentrale Erzeugung. Import oder Eigenerzeugung. Grau, blau, türkis, grün. In der Mobilität, der Industrie oder in der Raumwärme. Viele Fragen sind noch offen und viele Optionen noch nicht beleuchtet.

Was aber klar ist, ohne einen langfristigen, stabilen Bedarf nach Wasserstoff wird auch der Aufbau eines Wasserstoffökosystems, sei es nun zentral oder dezentral, nicht nachhaltig gelingen.

Die wichtigste Frage, die daher immer im Raum steht, lautet: Habe ich einen signifikanten Wasserstoffbedarf in meinem Betrachtungsraum bzw. wie sieht das zukünftige Potenzial aus?

Sofern hier nicht offensichtliche Großabnehmer (z.B. Stahl- oder Zementindustrie) in räumlicher Nähe liegen, wird es herausfordernd. Zurecht stellen sich dann viele Stadtwerke, kommunale Unternehmen oder auch Kommunen und andere Körperschaften die Frage, ob überhaupt die Grundbedingung für den Aufbau eines Wasserstoffsystems vorliegen und ein Befassen mit der Thematik sinnstiftend ist.

Ein Werkzeug, welches bei der Beantwortung der grundsätzlichen Frage nach dem vorliegenden und perspektivischen Bedarf unterstützen kann und einen bottom-up-Ansatz verfolgt wurde nun durch das Fraunhofer IEE in Kooperation mit den Städtischen Werken Kassel entwickelt. Die systematische und skalierfähige Methodik erlaubt es, über einen niederschwelligen Einstieg und frei verfügbare Daten den regionalen aktuellen und perspektivischen Wasserstoffbedarf für die Sektoren Mobilität und Industrie zu ermitteln.

Methodik und Ergebnisse für den Raum Kassel

Die Methodik wurde so konzipiert, dass sie einfach, adaptierbar und skalierbar sowie über frei zugängliche Daten funktioniert. Für die Zukunftsprognosen wird auf den aktuellen Stand der Entwicklungen in der Politik und der Wirtschaft gesetzt und auch diese Prognosen sind frei modifizierbar. Eine Validierung der Erkenntnisse wurde über eine großangelegte Umfrage vorgenommen.

Randbedingung: Wasserstoff als Raumwärme wird ebenso wenig betrachtet wie der Einsatz von Wasserstoff als Speichermedium oder zur Rückverstromung. Ein Einbezug in die eigenen Betrachtungen steht aber jedem Anwender offen.

Mobilität:

Im Verkehrssektor wird in Straßen-, Schienen- und Luftverkehr unterschieden. Als Grundlage für die Betrachtung des Straßenverkehrs wird der Fahrzeugbestand in der Betrachtungsregion verwendet. Um diesen zu ermitteln, werden Daten des Kraftfahrtbundesamtes (KBA) genutzt und mit wissenschaftlichen Prognosen zu künftigen Anteilen an BEV (Elektrofahrzeuge) und FCEV (Brennstoffzellenfahrzeuge) sowie deren Verbräuchen kombiniert. Exemplarisch ist in Abbildung 1 der Wasserstoffbedarf für die Betrachtungsregion Kassel für die Jahre 2025 bis 2050 dargestellt.

Im deutschen Schienennetz sind im Jahr 2022 61 Prozent der Strecken elektrifiziert. Im Jahr 2017 wurden in Deutschland 36,5 Prozent der Nahverkehrszugkilometer mit Dieselzügen erbracht, welche künftig mit emissionsfreien Technologien betrieben werden müssen. Dafür kommen batterie- oder wasserstoffbetriebene Züge in Frage. Als Grundlage für die Berechnung von Wasserstoffbedarfen im Schienenverkehr wurde der Nahverkehrsplan herangezogen. Aus ihm sind die Zugkilometer pro Jahr entnehmbar, der Betreiber der Strecke sowie die Laufzeit der aktuellen Verkehrsverträge. Die Elektrifizierung von Strecken kann dem Infrastrukturregister der DB Netz AG entnommen werden. Basierend auf Kennzahlen der heute verfügbaren wasserstoff- und batterieelektrischen Züge werden unter Berücksichtigung von Streckenlänge, Ausschreibungshorizonten und Streckencharakteristik Wasserstoffbedarfe ermittelt. Für die Betrachtungsregion Kassel wurden zwei Linien ermittelt, die potentiell mit Wasserstoff betrieben werden können. Daraus ergebe sich ein jährlicher Wasserstoffbedarf in Höhe von 242 Tonnen ab 2032.

Der Flugverkehr zählt zu den Sektoren, für die eine emissionsfreie Technologie in absehbarer Zukunft nicht zur Verfügung steht. Um den Luftverkehr zu defossilisieren, ist die Herstellung von grünem Kerosin eine Möglichkeit. Da die Wertschöpfungskette aber auf co-processing beruht und das grüne Zwischenprodukt SynCrude zusammen mit fossilem Rohöl in einer Raffinerie zu Jet A1 Kraftstoff verarbeitet werden muss, ist eine zentrale Beschaffung von Kraftstoff für den Flugverkehr auf absehbare Zeit die einzige Möglichkeit. Davon abgesehen sind die innerdeutschen Erzeugungskapazitäten nicht ausreichend, um alle Bedarfe zu decken. Der Energieimport von flüssigen Medien ist einfacher als der Import von Gas, sodass der Fokus der Versorgung auf purem Wasserstoff liegen sollte.

Industrie und Gewerbe

Als Basis für die Ermittlung potenzieller Wasserstoffbedarfe in der Industrie wurden stoffliche und energetische Bedarfe eruiert. Bewertet wurden die Einsatzoptionen anhand der heutigen Treibhausgasemissionen und des Minderungspotenzials durch den sinnvollen Einsatz von grünem Wasserstoff, wo eine Elektrifizierung nicht möglich ist. Dies geschieht sektor- und anwendungsspezifisch nach folgendem Schema:

1. Aktuelle Treibhausgasemissionen und Einordung des Sektors

2. Ursachen für die Treibhausgasemissionen

3. Betrachtung aktueller Technologien

4. Zukünftige Technologien

5. Qualitativer und quantitativer Wasserstoffbedarf

Die Analyse für die Betrachtungsregion basiert auf einem Auszug aus dem Handelsregister. Die Unternehmen werden den Wirtschaftszweigen zugeordnet und mit Verbrauchsprognosen aus wissenschaftlichen Studien verknüpft. In der Betrachtungsregion gibt es keinen stofflichen Wasserstoffbedarf. Die energetischen Bedarfe für beispielsweise Hochtemperaturprozesse sind in Abbildung 2 dargestellt.

Zusammenfassung Bedarfe:

Eine Zusammenfassung der Ergebnisse für Verkehr und Industrie mit räumlicher Zuordnung der künftigen Bedarfe folgt in Abbildung 3. Die Karte veranschaulicht regionale Hotspots im Jahr 2040 von künftigen Wasserstoffbedarfen. So lassen sich die künftigen Bedarfe auf einen Blick verorten und die Infrastrukturen können an die Bedarfe angepasst werden.

Auswirkung auf den Grünstrombedarf:

2040 besteht in der Betrachtungsregion Kassel ein Wasserstoffbedarf in Höhe von 4800 t/a. Um diesen mit einer Elektrolyse zu erzeugen, werden zirka 250.000 MWh grüner Strom benötigt. Unter der Annahme, dass die Windenergie in Kassel rund 2900 Vollaststunden (VLS) aufweist, wäre also ein zusätzlicher Windpark mit einer installierten Leistung in Höhe von 85 MW notwendig, um den Bedarf regional zu decken. Eine PV-Anlage zur Erzeugung des grünen Stroms für die Elektrolyse bräuchte unter der Annahme von ca. 1100 VLS eine installierte Leistung in Höhe von 230 MW. Die Dimensionierung von Elektrolyse und erneuerbaren Energien ist allerdings durchaus komplex. Eine Kombination aus Wind und PV (Hybridkraftwerk) führt oft zu geringeren Wasserstoffgestehungskosten. Eine zeitreihenbasierte Analyse für eine jährliche Wasserstoffproduktion in Höhe von 4.800 t führt zu der Installation von 57 MW Elektrolyse, die von einem Hybridkraftwerk mit 71 MW Wind und 40 MW PV gespeist wird (viertelstündlich aufgelöste Zeitreihen siehe Abbildung 4). Die Wasserstoffgestehungskosten dafür würden 5 €/kg betragen, was mit Blick auf die bekannten Szenarienberechnungen als niedriger Wert einzuordnen ist.

Zusammenfassung und Ausblick

Am Beispiel der Region Kassel wurde die Methodik erstmalig angewendet und erprobt. Sie ermöglicht eine auf frei verfügbaren Daten basierende Einschätzung der aktuellen und künftigen Wasserstoffbedarfe, die wiederum als Grundlage für weitreichende strategische Entscheidungen dienen. Die augenscheinlich in der direkten Kasseler Region heute eher geringen Bedarfe verringern nicht die Notwendigkeit, die Entwicklung auf Erzeugungs- und Bedarfsseite weiter genau zu beobachten. Mit der hier vorgestellten vergleichsweise einfachen Methodik kann auch für andere Regionen eine gute Ausgangsbasis geschaffen werden, um im Bedarfsfall schnell reagieren zu können.

Die durch das Fraunhofer IEE im Auftrag von den Städtischen Werken Kassel entwickelte Methodik lässt eine Bewertung der Region zu und kann die Hemmschwelle für Entscheidungsträger herabsetzen den Einstieg in eine regionale Wasserstoffwirtschaft zu tätigen. Sie ist leicht adaptierbar für weitere Regionen oder Betrachtungsgebiete und ihre Ergebnisse können als erste Indikation genutzt werden. Gerne stehen die Städtischen Werke und das Fraunhofer IEE für Rückfragen zur Verfügung.